Unechte Karettschildkröte.

Bereits seit mehr als 150 Millionen Jahren bewohnen die Meeresschildkröten unseren Planeten und sogar vor unseren Küsten kann man die Urzeit-Tiere (mit ein wenig Glück) sehen. Auf Ibiza gibt es eine Auffangstation in der Nähe der Cala Gracio und auf Formentera in der Nähe der Cap de Barbaria. Im westlichen Mittelmeer ist ausschließlich die „unechte Karettschildkröte" verbreitet. Der Bestand wird auf mehrere Zehntausend geschätzt. Noch.

Genaueres lässt sich schwer sagen, denn die Tiere führen ein seltsames Nomadenleben: kaum aus den Eiern geschlüpft, sind die kleinen „Tortugas", wie Schildkröten auf Spanisch heißen, sich selbst überlassen und laufen instinktiv dem Meer entgegen. Dann verschwinden sie in den blauen Tiefen und werden kaum noch gesehen. Im Laufe der Jahre verwandeln sich die Schildkröten in wahre Navigationsspezialisten. Mit den Strömungen reisen sie durch die Ozeane, sind oft Tausende von Kilometern unterwegs. Dabei passiert etwas, das nicht einmal Wissenschaftler zu erklären vermögen: Sobald sie die Geschlechtsreife erreichen, kehren sie punktgenau an die Strände zurück, an denen sie selbst Jahre zuvor geboren wurden – egal, wie weit sie entfernt liegen – auch wenn es Tausende von Kilometern sind. Noch weiß niemand genau, wie sich die Meeresschildkröten auf so phänomenale Weise zurechtfinden können. Es wird vermutet, dass sie neben den Strömungen auch das Magnetfeld der Erde zur Orientierung nutzen. Auch der Winkel des einfallenden Lichts könnte eine Rolle spielen. Um genauere Erkenntnisse zu bekommen, laufen schon seit geraumer Zeit Markierungsprogramme, bei denen ausgewählte Exemplare über Peilsender beobachtet werden.

Es ist gar kein großer Zufall vor Formentera auf eine Schildkröte zu treffen. Der Grund? Die Panzertiere haben eine Spezies zum Fressen gern, die Menschen eher nicht im Wasser antreffen möchten: Quallen. Und die tummeln sich jetzt (sehr zum Leidwesen für Badefreunde) scharenweise am Cap de Barbaria und den anderen Küsten der Pityusen. Auch das angenehme Klima hat es den Schildkröten angetan, ist doch die Wassertemperatur um Formentera und Ibiza gemäßigter als in manch anderen Regionen des Mittelmeeres.

Vor Formentera schwimmen ausschließlich Schildkrötenkinder. Der Bestand an älteren, und damit fortpflanzungsfähigen Tieren ist gleich Null. Da müssten wir uns fragen, woher denn die ganzen Schildkröten kommen, die in den hiesigen Gewässern treiben. Zumal es im westlichen Mittelmeer weit und breit keinen Strand gibt, an dem die Schildkröten Eier legen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, woher die Tiere stammen konnten: von den Brutstätten im östlichen Mittelmeer, oder von weit entfernten Kolonien vor Amerika. Die Lösung für das komplette Rätsel der Schildkrötenwanderungen liefert die Genetik. Weil die Weibchen stets an die Strände zurückkehren, an denen sie selbst aus den Eiern schlüpften, besitzt jede Population einen genetischen Code, der sie eindeutig von anderen Kolonien unterscheidet. Formenteras Schildkröten sind fast komplett über „den großen Teich" geschwommen. Sie stammen zu 80 Prozent aus den amerikanischen Brutstätten, die sich beispielsweise an den Stränden Floridas befinden. Der Golfstrom dient ihnen sozusagen als Reiseexpress. Leider findet man sie süßen Tierchen auch oft in ganz anderen Zuständen vor: verendete Tiere, denen dicke Angelhacken in den Schlünden stecken. Der Feind hat einen Namen: Schleppleinen-Fischerei. Bei dieser umstrittenen Methode gehen jedes Jahr Tausende Schildkröten zugrunde. Sie verschlucken die Köder, die eigentlich Thun- und Schwertfischen gelten. Als unerwünschter „Beifang" werden sie mit der Angelsehne abgeschnitten und wieder in das Meer geworfen. Allein durch die Fischerei sterben so bis zu 25.000 Karettschildkröten jedes Jahr. Viele verenden auch, weil sie Plastiktüten verschlucken, die unter Wasser wie Quallen aussehen. Regelmäßig sammeln Schutzorganisationen vor Formentera verletzte Exemplare ein. Um auch gleich aktiv helfen zu können, gibt es ein Rehabilitationszentrum für Meeresschildkröten. Im „Vellmari" werden die Tiere gesund gepflegt, damit sie später wieder zurück in ihren Lebensraum gebracht werden können. Eine mühevolle Aufgabe, die es allerdings auch wert ist. Schließlich bevölkern Schildkröten schon seit 150 Millionen Jahren unseren Planeten. Jedes gerette Tier repräsentiert eine Spezies, die Dinosaurier gesehen und Eiszeiten überlebt hat, die Würde und Weisheit verkörpert wie kaum eine andere Art.